Der Populismus ist heute eine weit verbreitete politische Einstellung, doch immer stärker ist auch die Tendenz, alles als populistisch abzustempeln, was nicht den Massstäben der politischen Korrektheit entspricht. In einem beschreibenden Sinne ist Populismus eine politische Auffassung, die das Volk als ein homogenes Wesen, höchsten Bezugspunkt und Träger positiver Werte sieht.
Die populistischen Bewegungen haben deshalb meist einen charismatischen Leader, der direkt mit dem Volk kommuniziert.
In einem zweiten, abwertenden Sinne ist Populismus die Tendenz, oberflächliche, demagogische, unrealistische Antworten auf gesellschaftliche Probleme zu geben, mit dem Ziel, einen unmittelbaren breiten Konsens zu schaffen. Diese Art von Populismus ist eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie und den Rechtsstaat.
In der Schweiz kennen wir beide Phänomene. Ein Beispiel für eine populistische Bewegung im ersteren Sinne ist die Lega dei Ticinesi. Diese fordert z.B. mehr Subventionen für Einheimische und zugleich massive Steuersenkungen. Die historischen Parteien sehen darin ein lösungsbedürftiges Dilemma, weil die Staatsverschuldung stark ansteigen würde. Für eine populistische Bewegung besteht dieser Widerspruch nicht, weil Staatsverschuldung für sie kein Problem ist.
Der Begriff “Populist” wird allerdings immer häufiger nicht zum Beschreiben oder Definieren, sondern nur zum Abwerten benutzt. Gewiss gibt es demagogische Forderungen, doch nicht alle Vorschläge, die den Erwartungen und Befürchtungen der Bevölkerung Rechnung tragen, sind demagogisch. Wenn eine Partei mehr Ordnungshüter will, weil Diebstahl und Überfälle angestiegen sind, oder strengere Strafgesetze für Schwerverbrecher, ist das noch längst kein Populismus. Es sind Lösungsansätze für reale Probleme. Erst recht in unserer Konsensdemokratie sollen die Vorschläge aus allen politischen Lagern und alle Impulse ernst genommen werden, um zu wirksamen, realisierbaren Lösungen zu führen.
Auch politisch unkorrekte Ideen sind existenzberechtigt. Nötig sind die Auseinandersetzung, die Prüfung, und nicht die Verteufelung. Die Erfahrungen im Tessin haben gezeigt, dass vorurteilslos und gründlich debattierte populistische Ideen manchmal populär, manchmal unpopulär sind.
MM / 02.10.2013
NZZ am Sonntag “Grenzerfahrungen”, 06.10.2013
Pubblicato il: 06/10/2013