Liberale Parteien in der Krise
Die Liberalen haben es in Europa zurzeit schwer. Die Wahlresultate der meisten liberalen Parteien liegen zwischen schlecht und katastrophal. So wurde in Deutschland die FDP von Aussenminister Guido Westerwelle und Vizekanzler Philipp Rösler zuerst von Berlin bis Bayern aus verschieden Landtagen und schliesslich aus dem Bundestag abgewählt. Bei den Grossratswahlen in Genf vom 6. Oktober verlor die FDP insgesamt 7 von 31 Sitzen und fast vier Prozentpunkte. Gesamtschweizerisch zeigt der langfristige Trend nach unten. Bei den eidgenössischen Wahlen von 2011 hat die FDP trotz Fusion mit der Liberalen Partei Stimmen und Sitze verloren. Wenn man bedenkt, wie erfolgreich der Freisinn einst gegen die SP um den Vorrang kämpfte, kommt Wehmut auf. Hier wurde viel Terrain verspielt.
In den Kantonen, wo der Freisinn die relative oder gar absolute Mehrheit auf sich vereinigte, gibt der Niedergang der vergangenen Jahre Anlass zu grosser Sorge. Im Tessin ist die Lage in mancherlei Hinsicht ähnlich wie in Genf. Auch hier musste 2011 die Partei zum ersten Mal einen ihrer beiden Regierungsratsitze abgeben. Und auf Gemeindeebene sieht es nicht besser aus. In den Städten wurde ihr die Führung abgenommen, zuerst in der politischen Hauptstadt Bellinzona, wo der Stadtpräsident nun ein Sozialist ist, dann in der Wirtschaftshauptstadt Lugano, wo heute die Lega den Vorsitz inne hat.
Natürlich haben auch lokal bedingte Umstände wie parteiinterne Spannungen zu diesen Resultaten beigetragen. Jedoch ist in vielen Kantonen und Ländern Ähnliches geschehen, was wohl bedeutet, dass die Wurzel des Übels tiefer liegt. Dies wiederum macht die Suche nach einem Weg aus dem Popularitätstief sehr schwierig. Das liberale Gedankengut hat unter der internationalen Finanzkrise und der Staatsverschuldung gelitten. Entgegen einer weitverbreiteten Meinung sind die Ursachen der Krise nicht auf eine liberale Politik zurückzuführen, dennoch geben Öffentlichkeit und fast alle Medien dem Liberalismus die Schuld. Die liberalen Parteien vermochten dieses Klischee nicht abzuschütteln und zahlen dafür nun einen sehr hohen Preis. Marktwirtschaft, persönliche Verantwortung, Wahlfreiheit, Recht auf Privateigentum, Produktion von Reichtum, Primat der Zivilgesellschaft – diese Eckpfeiler der Gesellschaft werden heute mit Feindseligkeit oder zumindest diffusem Misstrauen bedacht. Dieses negative Klima zu brechen, ist nicht nur für die liberalen Parteien lebenswichtig, sondern für die Zukunft der Gemeinschaft und ihrer Individuen insgesamt.
Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 20 ottobre 2013
Pubblicato il: 20/10/2013