Warum haben die Tessiner Angst um ihre Arbeitsplätze? Warum fürchten die Familien um die Zukunft ihrer Kinder, die heute ein Studium oder eine Ausbildung absolvieren? Weithin herrscht Beunruhigung, oft gar Unmut. Und dies, obwohl die Wirtschaftsdaten eigentlich positiv sind: Das Bruttoinlandprodukt wächst, wenn auch nur bescheiden. Die Zahl der Arbeitsplätze und die Höhe der Löhne steigen an, wie die Einnahmen aus den privaten Einkommenssteuern deutlich machen.
Wo liegt also der Haken? Für die Sorgen der Leute ist neben der Krise des Finanzplatzes noch ein weiteres Phänomen verantwortlich: Die meisten neu geschaffenen Arbeitsplätze der vergangenen Jahre kommen anscheinend nicht den hier Ansässigen zugute, sondern Arbeitskräften, die ausserhalb des Kantons wohnen und leben. Heute gibt es im Tessin laut offizieller Statistiken rund 184’000 Stellen. Fast ein Drittel davon, annähernd 60’000, werden von Grenzgängern besetzt. Solange die Arbeitslosigkeit sank, gab der Zustrom von Grenzgängern keinen Anlass zu grosser Besorgnis. Trotz wachsender Wirtschaft und mehr Stellen nimmt die Arbeitslosigkeit im Tessin seit zwei Jahren aber wieder zu: 2011 lag sie bei 4.2%, 2012 bei 4.4% und in den letzten zwölf Monaten durchschnittlich bei 4,5%.
Der Arbeitsmarkt ist sehr dynamisch, doch die Bevölkerung hat den Eindruck, diese Dynamik schaffe in den angrenzenden Regionen mehr Wohlstand als auf dem Kantonsgebiet. Die jüngere Entwicklung ist bezeichnend. Seit Ende der schweren Krise Mitte der 90er Jahre, also seit 1997/98, ist die Zahl der Arbeitsplätze im Kanton von 151’000 auf 184’000 angestiegen. Gleichzeitig hat die Zahl der Grenzgänger von 26’000 auf 59’000 zugenommen. Kurz: 33’000 Stellen mehr, 33’000 Grenzgänger mehr. Und seit neustem nimmt die Zahl der Grenzgänger sogar stärker zu als jene der Arbeitsplätze. Manche sprechen von Verdrängung der Einheimischen aus dem Arbeitsmarkt als Folge der Personenfreizügigkeit.
Von daher rührt die Verunsicherung und der Groll vieler Tessiner. Alle können die Grenzgänger jeden Tag auf den Strassen oder am Arbeitsplatz sehen. Aber wenige können die Vorteile sehen, die aus der Marktöffnung entstehen. Und niemand sieht die schweren Folgen, die eine Abschottung gehabt hätte oder haben würde. In dieser neuen Situation haben bisher weder Politiker noch Ökonomen wirklich taugliche Massnahmen vorgeschlagen, um den vielen Tessinerinnen und Tessinern wieder ihr Vertrauen in die Zukunft zurückzugeben.
MM / 25.10.2013
NZZ am Sonntag/ Grenzerfahrungen, 3.11.2013
Pubblicato il: 03/11/2013