Entfesselter Wirtschaftsliberalismus heisst das Schreckgespenst für Politiker, Analytiker und Kommentatoren, die seit einigen Jahren nach neukeynesianischen Regelwerken rufen als Gegengift für die mehr oder minder schweren Probleme einzelner Staaten. Alle modernen Übel und Desaster werden den gemeinhin als entfesselt taxierten wirtschaftsliberalen Massnahmen angelastet: Privatisierungen, Deregulierungen, Liberalisierungen, Steuersenkungen. Doch eigentlich sind in den letzten zehn Jahren kaum Spuren einer solchen Politik auszumachen. In der Schweiz beispielsweise gibt es trotz angeblich entfesselter Liberalisierungen noch eine hundertprozentig staatliche Post, mit einem Restmonopol beim Briefverkehr.
Werfen wir einen Blick auf das Tessin: Vor einigen Jahren malte die Linke den Teufel an die Wand angesichts einer befürchteten – aber nie vorgeschlagenen – Privatisierung der Kantonalbank. Dies geschah natürlich nicht. Hingegen wurde eine Bank verstaatlicht: 2010 übernahm die Tessiner Kantonalbank die einstige UniCredit (Suisse) Bank AG.
Auf dem Strommarkt machte das Tessin trotz kontrollierter Öffnung das Gegenteil von Wirtschaftsliberalismus und verstaatlichte das einzige Privatunternehmen auf dem Elektrizitätsmarkt: 2013 wurde die Società elettrica sopracenerina (mit der Mehrheitsaktionärin Alpiq) vom Tessiner Elektrizitätswerk AET und den Gemeinden übernommen, finanziert von der Kantonalbank. Erst kürzlich kam die Operation zum Abschluss.
Beim Detailhandel wurden jüngst nach mehr als zehn Jahren Erfahrung mit Sonntagsverkäufen im Zentrum Fox Town in Mendrisio sowie in einigen anderen Einkaufszentren Schritte unternommen, um diese Gewohnheit zu beenden, weil sie als unvereinbar mit dem eidgenössischen Arbeitsgesetz gilt. Wie die Angelegenheit ausgehen wird, ist bis zu einer allfälligen Änderung des Bundesrechts ungewiss.
Was die Finanzpolitik betrifft, traten die letzten Steuersenkungen 2003 in Kraft. Seither wurde kaum etwas getan. Im Gegenteil beschlossen die Stimmbürger am 18. Mai die Einführung einer Defizitbremse und eines kantonalen Steuerkoeffizienten in der Kantonsverfassung, was zu Steuererhöhungen führen wird. 2007 betrugen die Pro-Kopf- Ausgaben im Kanton 8 822 Franken. 2013 waren es 10 227 Franken, Tendenz steigend. Die öffentliche Verschuldung des Kantons belief sich 2007 auf 1,3 Milliarden Franken. Letztes Jahr waren es 1,7 Milliarden und am Ende des laufenden Jahres werden es rund 1,9 Milliarden sein.
Was ist an all dem wirtschaftsliberal?
Marina Masoni / 22.05.2014
Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 1° giugno 2014
Pubblicato il: 06/06/2014