Woher kommt das Malaise in den Beziehungen zwischen dem Tessin und Italien? Was ist zwischen dem Kanton italienischer Sprache und Kultur und der Wiege der italienischen Sprache und Kultur in Brüche gegangen? Das Problem betrifft auch die Beziehungen der Schweiz zu Italien, und dies ausgerechnet jetzt, da Bern und Rom über das Steuerabkommen und die schwarzen Listen verhandeln.
Es gibt drei Hauptgründe. Der erste ist die Tatsache, dass die Lega dei Ticinesi im Kanton eine bedeutende, oft gar dominante Stellung eingenommen hat. Die 1991 entstandene Partei ist stark anti-italienisch geprägt. Zwischen den Tessinern und den Italienern herrscht schon seit den Vorkriegsjahren, also lange vor der Lega, eine Art Hassliebe. Durch die Lega schlug das Pendel allerdings weit stärker in Richtung Ressentiments aus.
Der zweite Grund liegt bei der italienischen Wirtschaftskrise, die für die Tessiner Unternehmen und den Arbeitsmarkt einen enormen Konkurrenzdruck mit sich brachte. Die wirtschaftliche Öffnung nach den Bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU war mehr Chance als Problem, solange die italienische Wirtschaft expandierte. Mit der internationalen Finanz- und der Staatsschuldenkrise scheint die offenere Grenze allerdings fast nur noch Chancen auf der anderen Seite der Grenze, in Italien, zu schaffen. Im Tessin ergeben sich zwar auch Chancen, aber diese sind für die Tessiner Bevölkerung nicht unmittelbar und konkret spürbar. Zur Veranschaulichung: Im ersten Quartal dieses Jahres hat die Zahl der Grenzgänger im Tessin zum ersten Mal in der Geschichte 60 000 überschritten (von insgesamt 185 000 Arbeitsplätzen). Die Tessiner sehen heute Italien und die Italiener als eine Bedrohung (wie die Abstimmung vom 9. Februar gezeigt hat).
Der dritte Grund liegt in der schweren System- und Vertrauenskrise Italiens, in der verbreiteten Korruption und in unzähligen Strafprozessen bezüglich Vergabeverfahren für Grossprojekte. Der Fall Expo 2015 in Mailand hat nicht nur viele Italiener, sondern auch viele Tessiner befremdet. Als der Grosse Rat einen Kredit von 3,5 Millionen Franken für die Tessiner Präsenz an der Expo sprach, sammelte die Lega weit über 12 300 Unterschriften dagegen (7 000 hätten genügt). Die Abstimmung findet im September statt. Das Risiko ist gross, dass sie ähnlich ausfällt wie am 9. Februar. Das Klima bei den Beziehungen zwischen dem Tessin und Italien ist und bleibt wohl weiter düster. Bis jetzt hat niemand die magische Formel gefunden, um wieder etwas Sonnenschein herbeizuführen.
Marina Masoni
Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 15 giugno 2014
Pubblicato il: 24/06/2014