Grenzgänger haben es momentan im Tessin so schwer wie wohl seit Jahrzehnten nicht mehr. Sie sind zum Sündenbock für alle möglichen sozialen Probleme geworden. Die Abstimmung vom 9. Februar – die Zustimmung im Tessin betrug 68,2 Prozent – diente als Ventil für diffuse Ressentiments. Zweifellos ist der starke Zuwachs von Grenzgängern ein Problem. Seit Ende der neunziger Jahre ist ihre Zahl von 28 000 auf 62 000 angestiegen. Die Lega dei Ticinesi und die SVP sprechen gar von «einer Invasion», obwohl die Grenzgänger nicht ins Tessin einfallen, sondern von den hier tätigen Firmen gerufen werden.
Schon mehrfach versuchten politische Vorstösse diesen Trend zu bremsen oder zu unterbinden. Am 5. November hat der Tessiner Grosse Rat nun eine entsprechende steuerliche Massnahme verabschiedet. Erstaunlich ist dabei, wie das Thema Grenzgänger die Parteipositionen durcheinanderbringt. So war es die SVP, die vorgeschlagen hatte, die Quellensteuern für Grenzgänger zu erhöhen. Die einzigen Gegenstimmen dazu kamen hingegen aus den Reihen der Sozialisten sowie von zwei Gewerkschaftern der CVP. Die Rechte forderte also Steuererhöhungen, während die Linke sie ablehnte. Einzigartig.
Was wurde beschlossen? Die Erhöhung des massgebenden kommunalen Multiplikators für die Einkommenssteuer von quellenbesteuerten Grenzgängern. Heute wird der gewichtete Durchschnittssteuerfuss aller Gemeinden von 78 Prozent angewandt. Dieser wird nun auf 100 Prozent erhöht. Die Anhebung um 22 Prozentpunkte entspricht einer Erhöhung um 28 Prozent. Welche Konsequenzen hat diese Verschärfung? Etwa die unterschiedliche Behandlung von ansässigen und nicht ansässigen Steuerpflichtigen. Ist da ein Unterschied von 28 Prozent gerechtfertigt? Zweifel sind angebracht. Was geschieht, wenn ein betroffener Grenzgänger Beschwerde einreicht? Im Grossen Rat wurde argumentiert, in vielen Gemeinden liege der Steuerfuss über 78 Prozent. Das stimmt, ist aber letztlich nicht ausschlaggebend.
Das Prinzip der Gleichbehandlung gilt auch im Steuerrecht. Zugegeben, seine Handhabung ist bei der Quellensteuer besonders problematisch. Bis heute wurde es im Tessin – einfach und einleuchtend – durch die Anwendung des gleichen Multiplikators für die Gesamtheit der Grenzgänger und für die Gesamtheit der Ansässigen umgesetzt. Es sind natürlich andere Lösungen denkbar. Ein so deutlicher Unterschied wie der vom Grossen Rat beschlossene scheint jedoch nicht vertretbar zu sein. Es bleibt abzusehen, ob diese ungleiche Behandlung einer allfälligen Beschwerde standhält.

Marina Masoni
Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 16 novembre 2014

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Pubblicato il: 21/11/2014