Das Tessin denkt wieder über seine Zukunft nach. Endlich. Zu lange ist es schon her, seit der Kanton italienischer Sprache und Kultur, die Brücke zwischen der Deutschschweiz und dem grossen lombardischen Wirtschaftsraum, Analysen und Überlegungen zur eigenen Entwicklung angestellt hat.
Nun hat das Institut für Wirtschaftsforschung (IRE) mit Unterstützung der Fidinam-Stiftung eine Studie vorgelegt: «Tessin der Zukunft – Gedanken zu einem Weg für die Tessiner Wirtschaft» von Professor Rico Maggi. Es ist eine Art neues Weissbuch mit einem breit auf Daten abgestützten analytischen Teil und Vorschlägen aufgrund einer profilierten Vision. Es ist ein wertvolles Dokument. Zuvor hatte es drei vergleichbare Arbeiten gegeben:
1. «Projekt Tessin – Denkanstösse für die Zukunft der Wirtschaft» von 1996, auf Initiative von UBS und IRE, mit Beiträgen von Exponenten aus der Wirtschaft;
2. «Ticino 2015 – Weissbuch über die wirtschaftliche Entwicklung im Umfeld der Globalisierung» von 1998, verfasst von Carlo Pelanda im Auftrag des Tessiner Finanz- und Volkswirtschaftsdepartements.
3. «Vom Paradies ins Fegefeuer – Hundert Jahre Wirtschaftsentwicklung im Tessin» des Ökonomen Angelo Rossi von 2005.
Die drei Dokumente sind unterschiedlich angelegt, enthalten aber durchwegs originelle Ansätze, sowohl bei der Analyse als auch bei den Entwicklungsszenarien und Vorschlägen. Nach diesen drei Studien aber kam die Leere. Keine Ideen, keine Projekte. Das ist umso bedenklicher, als in den letzten zehn Jahren grosse Veränderungen eingetreten sind, namentlich der Übergang vom Wachstum dank Globalisierung und Öffnung zur Schuldenkrise mit globalisierungsfeindlichen Abschottungstendenzen.
In der Tessiner Realität ist eine solche Ideen- und Richtungslosigkeit, eine solche intellektuelle Unproduktivität ausgesprochen gefährlich. Um die strukturellen Schwächen der Wirtschaft zu überwinden oder wenigstens in Chancen umzuwandeln, muss das Tessin fähig sein, starke und innovative Projekte und wettbewerbsfördernde Reformen umzusetzen.
Das jetzige Dokument «Ticino futuro» zeigt vier Hauptbereiche auf, sogenannte Meta-Sektoren, dank denen der Kanton und seine Wirtschaft die gravierenden Probleme dieser Jahre überwinden können: Modeindustrie, Biotechnologie, Tourismus und Mechatronik (Mechanik-, Elektronik-, Informatikindustrie). Der Finanzplatz wird nicht mehr zu den Wirtschaftsmotoren im Tessin gerechnet. Ein Novum – und eine wichtige Herausforderung.

Marina Masoni
Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag in data 08.03.2015

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Pubblicato il: 13/03/2015