Heute stellt sich heraus, ob das Tessiner Stimmvolk die „Anti-Burka“-Initiative annimmt oder nicht. Diese will ein wichtiges gesellschaftliches Grundprinzip in der Kantonsverfassung verankern: In der Öffentlichkeit sollen Gesichter unverhüllt bleiben, ungeachtet religiöser, philosophischer oder politischer Ansichten. Das Thema ist nicht nur bei uns aktuell. Frankreich und Belgien haben es bereits ähnlich geregelt wie im Tessiner Vorschlag, der hohe Wellen schlug. Holland könnte bald folgen. Die Frage wird noch lange alle beschäftigen, denen unser Gesellschaftsmodell mit seinen breit abgestützten Werten und Prinzipien am Herzen liegt. Oft sind diese so selbstverständlich, dass es unnötig scheint, sie in der Verfassung oder in Gesetzen fest zu schreiben. In einer freien und offenen Gesellschaft wie der unseren kann es jedoch zu unvermittelten oder einschneidenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen kommen, die nicht immer mit unseren Grundsätzen von Freiheit, Offenheit, Toleranz oder Menschenwürde, allesamt Errungenschaften der Menschheit, vereinbar sind.
Die Öffnung Europas für den Islam ist an sich ganz im Sinne dieser Prinzipien, kann unsere Gesellschaft jedoch auch vor Situationen stellen, die eben diesen Werten widersprechen, wie Burka und Nikab. Selbst im Islam ist umstritten, ob diese religiös begründet sind oder nicht. Das ist aber für uns nicht entscheidend. Ein wesentlicher Grundsatz unserer Gesellschaft ist es, im öffentlichen Raum sein Antlitz nicht zu verhüllen. Schon immer zeigten wir in der westlichen Welt das Gesicht, um mit den anderen in Beziehung zu treten und ihnen zu ermöglichen, unsere Identität zu erkennen. Dabei wird toleriert, dass der andere unser Gesicht sieht oder dasjenige unserer Frau, Mutter, Tochter oder Schwester. Dieses Minimum an Toleranz und Entgegenkommen wird von allen gefordert und ist Mindestvoraussetzung für unser ziviles Zusammenleben. Deshalb haben über elftausend Stimmberechtigte beantragt, das Prinzip in der Verfassung zu verankern. Unabhängig vom Abstimmungsresultat wird das Thema noch lange nicht vom Tisch sein. Die Schweiz liegt in Europa, und was um uns geschieht, wird uns nicht erspart bleiben: Wir sind ein offenes Land, kein verschlossenes.
MM/17.09.2013
NNZ am Sonntag “Grenzerfahrungen” 22.09.2013
Pubblicato il: 22/09/2013