Dass im Tessin ein grosser Unterschied zwischen der statistisch erfassten und der gefühlten Realität besteht, bestätigt auch die Statistik zur Arbeitslosigkeit. Diesen Sommer ist im Kanton Tessin die Arbeitslosenquote nahe an das Schweizer Mittel gerückt. Im Juni lag sie mit 3,3 Prozent nur noch um 0,2 Punkte über dem Landesdurchschnitt von 3,1 Prozent. Die am Freitag veröffentlichten Zahlen zeigen, dass beide Werte im Juli unverändert geblieben sind. So etwas hat es in der jüngsten Vergangenheit nur einmal gegeben, vor zehn Jahren, als sich die Tessiner Wirtschaft nach der Mini-Rezession der Jahre 2002 und 2003 erholte. Im Tessin gibt es derzeit so wenig Arbeitslose wie noch nie seit der Finanz- und Staatsschuldenkrise von 2008.
Natürlich ist nicht alles Gold, was glänzt: Die Linke und die Gewerkschaften, aber auch ein Teil der Rechten, behaupten, dass diese positive Entwicklung der Arbeitslosigkeit auf die stille und schmerzliche Abwanderung vieler Arbeitnehmender im erwerbsfähigen Alter von der Arbeitslosen- zur Sozialhilfestatistik zurückzuführen sei. Eine solche Bewegung gab und gibt es gewiss. Aber es ist nicht erwiesen, dass 100 Arbeitslose weniger ganz automatisch 100 Fürsorgeempfänger mehr bedeuten. Die Tessiner Wirtschaft ist weiter am Wachsen, und sie schafft mehr Arbeitsplätze, als durch äussere Faktoren verschwinden, weil wettbewerbsschwache Firmen schliessen oder Personal kürzen müssen. Vom positiven Nettosaldo bei den Arbeitsplätzen profitieren nicht nur Grenzgänger, sondern auch Ansässige.
Viele im Tessin empfinden es jedoch anders. Daher auch das erdrückende Abstimmungsergebnis vom 9. Februar 2014 zur Masseneinwanderungsinitiative. Die Statistik ist aber ein wichtiger Ausgangspunkt, um die besten Strategien für die Zukunft des Tessins als Grenzwirtschaft aufzugleisen. Die von den Bilateralen ermöglichte Marktöffnung hat das Potenzial des Tessins zur Schaffung von Arbeitsplätzen nicht vermindert, sondern gestärkt.
Allerdings gibt es seit zwei Jahren auch Misstöne. Es sind Einzelfälle, meist Kleinstbetriebe, die den existenziellen Mindestlohn nicht einhalten, zu viele Grenzgänger beschäftigen oder durch die padroncini, also mit Selbständigerwerbenden, Lohndumping betreiben. Aber ist das Mittel dagegen die Abschottung? Oder der Ausstieg aus den Bilateralen? Ist es die Aufhebung des freien Personenverkehrs – und wie sollte das überhaupt gehen? Wohl kaum. Wenn sich das Tessin einigelt, läuft es Gefahr, einen der Motoren, die Arbeit schaffen, lahmzulegen. Dann würde die gefühlte Wirklichkeit tatsächlich mit der messbaren zusammenfallen.
Marina Masoni / Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 9 agosto 2015
Pubblicato il: 17/08/2015