Bald wird die 67. Ausgabe des internationalen Filmfestivals von Locarno eröffnet. Das Leoparden- Festival gehört wohl zu den wichtigsten Kulturanlässen nicht nur im Tessin, sondern in der Schweiz. Die Zahlen sprechen für sich. Im vergangenen Jahr verzeichnete das Festival insgesamt fast 163 000 Zuschauer, davon knapp 100 000 in den Kinos, der Rest auf der Piazza Grande, an jenem magischen Ort, der mit seinen 8000 Sitzplätzen Locarno zu einer einzigartigen, unvergesslichen Kulisse macht.

Diese Piazza verleiht dem Filmfestival jenen zutiefst volksnahen Touch, der anderen Festivals fehlt. Über 3000 akkreditierte Fachleute – darunter fast 1000 Medienschaffende – aus 40 Ländern berichten über 250 Filme und die Nebenschauplätze des elftägigen Festivals. Auch dieses Jahr hält das Festival Überraschungen bereit. Am Eröffnungstag im Fevi-Saal wird «Modern Times» gezeigt, Charlie Chaplins Meisterwerk, live begleitet vom Orchester der italienischen Schweiz: ein garantiert aussergewöhnlicher Genuss.

Das Festival von Locarno provoziert oft und gerne, bei der Filmauswahl, den geladenen Gästen, den Debatten. Manchmal ist die Provokation gewollt, manchmal nur Zufall, manchmal stösst sie auf Wohlwollen, manchmal auf Kritik. Natürlich besteht das Risiko, vom guten Geschmack abzukommen oder dem Konformismus und den Modeströmungen anheimzufallen. Aber es gibt immer auch den genialen Moment, wenn Ausnahmetalente oder ungewohnte Betrachtungsweisen entdeckt werden. Nicht alles am Festival kann allen gefallen. Vieles gefällt jedoch vielen.

Hierin liegt die Stärke von Locarno. Es ist ein Ort, an dem sich die künstlerische Freiheit ungebremst entfalten kann und der die Zuschauer nie gleichgültig lässt, denn die Gleichgültigkeit ist das Grab der wahren Kultur. Der Leopard gehört ins Freie, nicht in einen Käfig. Die geistige Ungebundenheit – mit all ihren Vor- und Nachteilen – ist die Stärke und die Zukunft des Festivals. Und sie rechtfertigt das finanzielle Engagement von Staat und Privaten. Ohne diese Zusammenarbeit kann heute keine hochstehende Kultur gemacht werden, die auch das breite Publikum anzieht.

Locarno hat einen Kinopalast geplant, die «Casa del cinema», als Sitz für das Festival und dessen Archive sowie als Ausbildungsstätte für audiovisuelle Berufe. Bald wird mit dem Bau begonnen. Locarno schaut also nach vorne. Hier zeigt sich das Tessin, das über Ideen und Durchsetzungsvermögen verfügt. Das offene und kreative Tessin, das den Freunden aus der restlichen Schweiz so gut gefällt.

Marina Masoni / 27.07.2014 Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 27 luglio 2014

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Pubblicato il: 20/08/2014