Obwohl im Tessin die Wirtschaft stetig wächst und immer mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, überwiegt in der Bevölkerung das Gefühl des Misstrauens und eine negative Wahrnehmung der Lage. Das Wort Krise hat in den Köpfen der Menschen tiefe Wurzeln geschlagen. Und das lässt sich offenbar kaum ändern: Misst man die Wirklichkeit mit den üblichen Zahlen, so ist das Resultat positiv. Versucht man aber, die Wahrnehmung der Wirklichkeit zu messen, wird das Resultat negativ. Natürlich muss man eine gewisse Verzerrung des Bildes einberechnen – durch soziale Netzwerke, Umfragen und Medien, welche die komplexe Tessiner Realität nicht genau widerspiegeln können. Trotzdem ist die Diskrepanz zwischen den Zahlen und der Befindlichkeit eine Tatsache. Und sie scheint immer grösser zu werden, besonders beim Thema Arbeit.
Ende Mai hat das Bundesamt für Statistik die Daten für das erste Quartal des Beschäftigungsbarometers 2015 veröffentlicht. Erneut sind sie positiv. Das Tessin ist im Schweizer Jahresvergleich sogar überdurchschnittlich gewachsen. Gegenüber dem ersten Quartal 2014 nahm die Zahl der Stellen um 1,1 Prozent zu, während es im Landesdurchschnitt 0,8 Prozent waren. Die Zahl der Arbeitsplätze im Tessin stieg im selben Zeitraum von 183 000 auf 185 000 – so viele wie noch nie. Dieser Trend hält bereits seit einigen Jahren an. Längst sind die Zeiten vorbei, als das Tessin mit einer schweren Beschäftigungskrise zu kämpfen hatte, so wie in der ersten Hälfte der neunziger Jahre. Die kantonale Wirtschaft hat den scheinbar unausweichlichen Niedergang von damals überwunden und seit 1998 insgesamt 34 000 neue Stellen geschaffen – ein Zuwachs von 22 Prozent. Das bedeutet: Die Tessiner Wirtschaft ist dynamisch, trotz den Problemen ihres tragenden Sektors, des Finanzplatzes. Doch viele Tessinerinnen und Tessiner nehmen das Wachstum nicht wahr. Es stimmt, dass viele Arbeitsplätze von Grenzgängern besetzt wurden, aber der Kanton als ganzer konnte von dieser Neulancierung profitieren.
Wir haben ein sehr ernsthaftes politisches Problem. Die Tessiner Wirtschaft konnte sich nur dank politischen Reformen zugunsten von mehr Wettbewerbsfähigkeit und Öffnung erholen. Heute wären erneut solche Schritte angesagt, auch als Antwort auf die Probleme der Personenfreizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Doch das politische Klima ist ungünstig und zielt eher in die andere Richtung: gegen Liberalisierungen, für die Abschottung des Arbeitsmarktes. Die neue Regierung und das neue Parlament werden in der laufenden Legislatur diesen Knoten zu lösen haben.

Marina Masoni
Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag del 28 giugno 2015

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Pubblicato il: 03/07/2015