Ein eingeigelter Kanton in Abwehrhaltung: Das ist das Bild des Tessins heute. Es ist das Bild einer Vertrauenskrise und der Furcht vor dem, was im Ausland passiert, vor allem in Italien.
Das Kantonsparlament hat letzte Woche unmissverständliche Beschlüsse gefasst, die zu diesem Bild passen: Beschlossen wurde ein sogenanntes Ethik-Label für Unternehmen, die statt Grenzgängern einheimische Arbeitnehmer beschäftigen (das Label soll nicht vom Staat, sondern von den Wirtschaftsverbänden verliehen werden, die jedoch dagegen sind). Beschlossen wurde auch ein Verzeichnis von Handwerksbetrieben im Bauwesen, die künftig nur noch zu Aufträgen für die öffentliche Hand und Private im Kanton kommen, wenn sie dort eingetragen sind (dieser Vorstoss wurde fast einstimmig angenommen; nur ein CVP-Vertreter stimmte dagegen mit der berechtigten Begründung, die neue Regelung sei unvereinbar mit dem Bundesgesetz über den Binnenmarkt). Gutgeheissen wurde auch eine parlamentarische Initiative der Sozialisten, um die Folgen des starken Frankens abzufedern, durch Massnahmen wie etwa Gutscheine für lokale Hotels und Restaurants, die der Kanton unterstützen sollte. Und schliesslich wurde eine Verfassungsinitiative der Grünen angenommen zur Einführung von branchenspezifischen Mindestlöhnen, um die Flut der Grenzgänger einzudämmen. Die Abstimmung darüber erfolgt im Juni.
All diese Signale gehen in dieselbe Richtung: Viele Tessinerinnen und Tessiner sind der Öffnung durch die bilateralen Abkommen mit der EU müde; viele leiden unter den Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Italien, die durch den offenen Arbeitsmarkt auf den Kanton übergehen – in Form von Grenzgängern, Temporärarbeitern, padroncini genannten Kleinstunternehmern und Selbständigerwerbenden, die Tessiner Angestellte und Betriebe verdrängen. Es ist zu einem Sinneswandel gekommen: Die Grenze wird nicht mehr als Chance für mehr Wachstum und Wohlstand wahrgenommen, sondern als Bedrohung für den in den vergangenen Jahren erarbeiteten Wohlstand. Mittlerweile teilen fast alle Parteien diese Ansicht, nicht mehr nur die Lega dei Ticinesi oder die SVP. Das ist gefährlich. Historisch gesehen, hat das Tessin immer dann am meisten geleistet, wenn es sich den Ideen, den Personen und den Unternehmen von aussen geöffnet hat, wenn es fähig war, diese äusseren Impulse positiv umzusetzen. Heute jedoch wird alles, was von aussen kommt, mit Misstrauen bedacht. Es ist aus Prinzip negativ. Die kommenden Jahre werden politisch sehr schwer werden, auch was die Beziehungen mit der restlichen Schweiz anbelangt.
Marina Masoni
Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 5 aprile 2015
Pubblicato il: 13/04/2015