In den vergangenen Jahren hat sich in der Bevölkerung die wahrgenommene Realität bei der Lohnentwicklung immer weiter von der gemessenen Realität entfernt. Das mag hart klingen und vielen, die Probleme haben, sogar beleidigend erscheinen. Und doch lässt sich das Phänomen erkennen, wenn wir einerseits die Einzelfälle betrachten, die unsere Gefühle ansprechen, und andererseits die Zahlen, welche die Realität als Ganzes beschreiben.
Seit Jahren herrscht im Tessin die Überzeugung, dass die Löhne stark sinken. Fast einhellig wird die Schuld daran dem freien Personenverkehr zugeschrieben, der am 1. Juni 2002 mit den bilateralen Abkommen eingeführt und seither schrittweise umgesetzt wurde. Die Medien berichten immer häufiger von Arbeitgebern, die sehr tiefe Löhne zahlen, manchmal sogar unterhalb des Existenzminimums. Die Gewerkschaften klagen solche Vorkommnisse mit Nachdruck an. Richtigerweise. Manchmal werden auf dem Arbeitsmarkt Verhaltensweisen festgestellt, die unserer Gesellschaft nicht wirklich würdig sind. Aber sie sind nicht der allgemeine Trend – zumindest nicht bis zur jüngsten Statistik, jener zu den Löhnen von 2012. Die schweizerische Lohnstrukturerhebung wird seit 2002 alle zwei Jahre vom Bundesamt für Statistik durchgeführt. Zehn Jahre Beobachtung und Messung – von 2002 bis 2012 – sind eine beachtliche Zeitspanne: Sie reicht vom letzten Jahr vor der Einführung der Bilateralen bis zur Erholung der Wirtschaft, über die Krise 2008/09 bis zur jüngsten Vergangenheit. Trotz allen Vorbehalten sind die Zahlen zuverlässig. Was sagen sie uns über das Tessin?
Das mittlere Monatseinkommen (also der Medianwert, der die Lohnempfänger in zwei gleich grosse Gruppen teilt) lag 2002 bei 4650 Franken und 2012 bei 5091 Franken. Der Anstieg betrug 9,3 Prozent. 2002 wurden sowohl der öffentliche als auch der private Sektor untersucht, 2012 nur die Privatwirtschaft. Der Anstieg dürfte daher noch etwas höher gewesen sein. Doch konzentrieren wir uns auf den Trend: Dieser zeigt nicht nach unten. Ebenso ist der Durchschnittslohn für die Grenzgänger von 4135 Franken im Jahr 2002 auf 4393 Franken 2012 gewachsen. Nicht einmal die starke Zunahme der Grenzgänger hat zu einer Senkung ihrer Löhne geführt. Wären die Löhne ohne die Bilateralen stärker angestiegen? Das können wir nicht wissen. Die Zahlen für 2014 fehlen noch, sie werden erst 2016 verfügbar sein. Die bisherigen Messungen zeigen jedoch, dass es keine allgemeine rückläufige Entwicklung gab. Viele sind dennoch überzeugt, es sei anders. Ein weiteres merkwürdiges Phänomen in unseren turbulenten Zeiten.
Marina Masoni
Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 12 luglio 2015
Pubblicato il: 17/07/2015