In zehn Tagen beginnt die 68. Ausgabe des Filmfestivals von Locarno. Es ist der grösste Anlass im Tessin und lockt jedes Jahr ein riesiges Publikum auf die bezaubernde Piazza Grande. Locarno ist einzigartig. Letztes Jahr sahen sich dort an die 170 000 Zuschauer auf der Piazza oder in den Kinosälen die Retrospektiven und Wettbewerbsfilme an. Und mit 600 Mitarbeitenden hat die Organisation mittlerweile beachtliche Dimensionen erreicht. Das Budget beläuft sich auf rund 12,5 Millionen Franken. Dank einem sorgfältigen Management und dank der Unterstützung durch private Sponsoren und die öffentliche Hand war die Rechnung ausgeglichen.
Der Qualitätssprung bei der Festivalleitung erfolgte zwischen 2000 und 2001 dank der Weitsicht des verstorbenen Staatsrates Giuseppe Buffi, der leider die Umsetzung seiner Vision nicht mehr erlebte. Seither hat der Presidentissimo Marco Solari dem Festival jedes Jahr mit Elan und Kreativität einen neuen Anstrich verliehen und neue Akzente gesetzt. Der Kanton hat die kulturelle, wirtschaftliche und soziale Bedeutung des Festivals längst erkannt und erneut einen Kredit über 14 Millionen Franken für die Jahre 2016 bis 2020 gesprochen. Die Fachhochschule der italienischen Schweiz hat 2011 in einer Studie unter anderem die Herkunft der Zuschauer analysiert (in diesem Jahr wird erneut eine Untersuchung durchgeführt). Demnach kommen 80 Prozent der Besucher aus dem Inland, 20 Prozent aus dem Ausland. Genauer: 32,2 Prozent kommen aus der deutschen Schweiz, 29,3 aus der italienischen Schweiz, 18,7 aus der Romandie, 9,3 aus Italien, 4,2 aus Deutschland, 3,1 aus Frankreich und der Rest aus anderen Ländern. Und ein Fünftel der Zuschauer ist jedes Jahr zum ersten Mal dabei.
Was führt zu einer solchen Vitalität? Warum kommen Tausende von mehr oder weniger jungen, mehr oder weniger fachkundigen Menschen auf die Piazza Grande? Bestimmt, weil Locarno das Festival der Freiheit ist. Natürlich mit all den Grenzen, die der Freiheit in unserer Gesellschaft gesetzt sind – und mit den unvermeidlichen Ausrutschern. Locarno lebt auch von ihnen.
Das Festivalpublikum weiss, dass gewollte und ungewollte Provokationen dazugehören und Diskussionen auslösen oder zu Konfrontationen führen können. Letztes Jahr sorgte etwa die Einladung des Regisseurs Roman Polanski für viele Auseinandersetzungen. Aber auch darin liegt die Stärke des Filmfestivals: die Freiheit, etwas vorzuschlagen oder gar zu provozieren, anzuecken und Kritik einzustecken, das Augenmerk stets auf Qualität gerichtet. Kunst und Freiheit, weil die Kunst Freiheit ist.
Marina Masoni / Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 26 luglio 2015
Pubblicato il: 17/08/2015