„Ich kann wirklich sagen: Ich bin ein Tessiner.“ Der SVP-Präsident weiss, wie man zu den Herzen der Menschen spricht. Toni Brunner machte diese Kennedy-mässige Aussage in einem Interview mit dem „Corriere del Ticino“ am Tag des – für ihn – grossen Sieges. Er verlangte die schnellst mögliche Umsetzung des neuen Verfassungsartikels zu den Ausländern und Asylbewerbern und erklärte, das Tessin sei für den Ausgang der Abstimmung entscheidend gewesen. Stimmt. Aber nicht allein. Einzeln betrachtet, gaben auch die Kantone St. Gallen (fast 21’000 mehr Ja-Stimmen) und Aargau (über 23’000 Ja-Stimmenüberschuss) den Ausschlag. Das Tessin war also kein Sonderfall im Sonderfall Schweiz. So gesehen kann Toni Brunner durchhaus behaupten, er sei ein Tessiner. Die Schweiz hingegen hat bestätigt, dass sie ein Sonderfall in Europa ist.

Warum? Weil wir wahrscheinlich das einzige europäische Land sind, dessen Wirtschaft und Arbeitsmarkt wachsen, und das trotzdem wie zu Krisenzeiten abstimmt. Auch im Tessin hat die Wirtschaft im Zeitraum der bilateralen Verträgen zwischen 2002 und 2013 real zugelegt, die Löhne sind dabei mittelmässig, die Zahl der Arbeitsplätze stark angestiegen – von 150’000 auf 180’000, also um ganze 20 Prozent. Und doch entschied das Stimmvolk am 9. Februar so, als steckte die Wirtschaft in der Krise. Wie ist dies zu erklären?

Es gibt drei Hauptgründe dafür. Erstens fiel ein Grossteil dieser positiven wirtschaftlichen Entwicklung auf Arbeitnehmende, die nicht im Tessin ansässig sind (Grenzgänger und selbstständig Erwerbende aus Italien, die sogenannten padroncini), zweitens hat Italien dem Tessin keine Reziprozität garantiert, und drittens wurden der Druck und die Drohungen von Seiten der Europäischen Union oder einzelner EU-Staaten auf unser Land als antidemokratischer Affront empfunden – gegen unsere Souveränität, gegen unser Demokratiemodell und gegen unsere Grundwerte. Die ersten beiden Punkte sind spezifisch für das Tessin, der dritte trifft auf einen Grossteil der Schweiz zu. Zusammen genommen, bewirkten diese Überlegungen im Tessin die überdurchschnittlich hohe Befürwortung der SVP-Initiative. Nun stehen wir vor einem kniffligen Rätsel: Wie soll man die Personenfreizügigkeit einschränken, gleichzeitig das einschlägige bilaterale Abkommen retten und dabei auch vermeiden, das Wirtschaftswachstum in der Schweiz und spezifisch im Tessin zu belasten? Toni Brunner soll auch weiterhin sagen können: „Ich bin ein Tessiner.“ Oder besser: „Sono un ticinese.“ Sonst erscheint zwischen dem Tessin und der Schweiz am Ende wieder die Mauer des Nichtverstehens.

Marina Masoni 14.02.2013

Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 23 febbraio 2014

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Pubblicato il: 28/02/2014