Noch sind die Folgen der Abstimmung vom 9. Februar nicht absehbar. Ein Monat nach dem Volksentscheid herrscht Unsicherheit. Der Bundesrat hat für den kommenden Juni einen Gesetzesentwurf zur Umsetzung des neuen Verfassungsartikels angekündigt. Die Initianten haben ihre Absichten über die Höchstzahlen und die jährlichen Kontingente für Ausländerinnen und Ausländer noch nicht dargelegt. Obwohl es sinnvoll wäre zu erfahren, welcher Wille hinter der SVP-Initiativesteht. In den Grenzkantonen, wo die bilateralen Abkommen nicht nur Wachstum, sondern auch Probleme mit sich brachten, ist die Unsicherheit noch grösser. Im Tessin war die Konfrontation während der Abstimmungskampagne ausgesprochen hart und ist seit dem 9. Februar noch nicht verebbt. Die Verwirrung ist gross. Die Befürworter der Initiative (SVP, Lega und Grüne) drängen auf eine rasche Umsetzung. Auch sie können aber nicht erklären, welche Höchstzahlen und welche Kontingente auf kantonaler Ebene festgelegt werden sollen. Und statt Klarheit schaffen sie noch mehr Verwirrung. Am 18. Februar hat der Grosse Rat mit Unterstützung durch die SP eine Resolution für eine Standesinitiative gutgeheissen. FDP und CVP waren dagegen, ebenso die Regierung. Darin wird gefordert, der Bund solle „das Tessin und andere Grenzregionen, die besonders hart von den negativen Folgen der Personenfreizügigkeit betroffen sind,“ zu einer Region mit Sonderstatus erklären. Der Vorschlag war bereits vor vier Jahren von den Grünen lanciert und daraufhin in den Schubladen des Kantonsparlamentes versenkt worden. Die Standesinitiative führte im Grossen Rat zu hitzigen Kontroversenund Nebengeräuschen, weil die Grünen danach die Liste der Parlamentarier veröffentlichten, die Nein gestimmt hatten, inklusive der zwölf Grossräte, die der Abstimmung ferngeblieben waren.

Noch mehr Verwirrung stiftet die Definition des Begriffs „Grenzregion mit Sonderstatus“. Der parlamentarische Vorstoss spricht nur von „spezifischen Gegenmassnahmen für die negativen Auswirkungen der Abkommen über den freien Personenverkehr.“ Welche Massnahmen damit gemeint sind, bleibt offen. Auf so brüchigem Eis und bei so vagen Konzepten ist sogar das Nachdenken schwierig. All dies widerspiegelt jedoch die Gemütslage des politischen Tessins. Man ist orientierungslos. Die Politik wird von Problemen der Gegenwart überrannt und tut sich schwer, konkrete Lösungsansätze zu finden. Es gibt keine Zukunftsvision für den Kanton. Das politische Tessin weiss zwar, was es nicht will, weiss aber nicht, was es will.

Marina Masoni

Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 9 marzo 2014

Pubblicato il: 21/03/2014