Gibt es zu viele Abzüge in unserem Steuersystem? Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf meint: Ja. In einem Interview hat sie soeben für nächstes Jahr ein Reformprojekt angekündigt, das alle geltenden Steuerabzüge für Familien abschaffen soll. Dafür würden die Kinderzulagen ausgebaut. Näheres wurde nicht bekannt. Aus Tessiner Sicht brächte eine solche Umgestaltung eine deutliche Benachteiligung von Mittelsstandsfamilien.

Rein theoretisch ist der Vorschlag der Finanzvorsteherin nachvollziehbar. Unter Fachleuten ist die Meinung weit verbreitet, dass ein Steuersystem keine aussersteuerlichen Zwecke verfolgen sollte. Doch ist dies eben Theorie. Würde dieses Prinzip konsequent angewandt, müsste man nicht nur alle Abzüge, sondern auch die Steuerprogression abschaffen, die eher soziale als steuerliche Ziele verfolgt. Damit wäre allerdings kaum jemand einverstanden.

Wir sollten uns vor einer zu dogmatischen Sicht hüten. Es ist nicht einfach automatisch schlecht, wenn das Steuergesetz auch aussersteuerliche Zwecke verfolgt. Ganz grundsätzlich ist es besser, wenn der Staat den Steuerzahlenden mehr von ihrem Einkommen und somit mehr finanzielle Selbständigkeit überlässt. Mehr Steuern zu erheben, um dann mehr Subventionen zu verteilen, würde dem Ziel widersprechen, dass möglichst viele Bürger autonom leben und nicht in die Abhängigkeit von Staatshilfen gezwungen werden.

Im Tessin hat sich der liberale Ansatz in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre nicht ohne Mühen seinen Weg gebahnt, gerade beim Steuer- und Sozialsystem und mit Blick auf die Familien. Einerseits wurden die Steuerabzüge verbessert (Abzüge für Kinder, Sonderabzüge für Eheleute, die beide erwerbstätig sind), andererseits wurden die Sozialleistungen für Einkommensschwache ausgebaut (Familienzulagen und ergänzende Kinderzulagen gemäss dem sogenannten Tessiner Modell, Subventionen für die Krankenkassenprämien). Diese Mischung ist in einem stark progressiven Steuersystem, in dem eine beträchtliche Anzahl Haushalte aufgrund ihrer tiefen Einkommen keine Steuern zahlen, auch erforderlich. Für letztere sind Steuererleichterungen zwecklos, gezielte Subventionen aber sehr wirksam. Für Familien mit mittleren und höheren Einkommen sind hingegen Steuerabzüge sinnvoll. Ein Umsturz dieses Systems durch die Abschaffung von Abzügen bei der direkten Bundessteuer und im Steuerharmonisierungsgesetz würde im Tessin den Mittelstand belasten und in die Verarmung oder die Abhängigkeit von Subventionen zwingen. Es wäre der falsche Weg.

MM / 11.11.2013

Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 17 novembre 2013

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Pubblicato il: 25/11/2013