Die Umverteilung von Wohlstand ist in Europa und den USA wieder Thema. Viel Ideologie ist im Spiel, besonders in Ländern, die unter der Wirtschaftskrise leiden und sich nur mit Mühe erholen. Einige Ökonomen behaupten, dass die Schuldenkrise einzig durch die Neuankurbelung des Konsums zu lösen sei und hierzu bedürfe es drastischer politischer Umverteilungsmassnahmen. Das Buch des französischen Ökonomen Thomas Piketty über das Kapital im 21. Jahrhundert ist zur neuen Bibel der neokeynesianischen Vertreter aus Politik und Wirtschaft geworden.
Die Grundidee ist immer dieselbe: Ein Teil des Vermögens und des von ihm generierten Einkommens wird den legitimen Besitzern weggenommen und umverteilt, um die Einkommen jenes Teils der Bevölkerung, der nicht über dieses Vermögen verfügt, anzuheben. Ziel ist die Verringerung der Einkommensunterschiede. In allen modernen Demokratien war man bisher der Überzeugung, dass die progressive Besteuerung den Ausgleich weitgehend realisiert. Dies wird heute nicht mehr als genügend angesehen.
Doch die Einkommenssteuer führt erwiesenermassen zu einer starken Umverteilung. Werfen wir einen Blick aufs Tessin, das eines der sozialsten Steuersysteme aller Kantone aufweist. Die jüngste vollständige Statistik geht auf das Jahr 2011 zurück (jene von 2012 ist noch lückenhaft). Im Tessin leben 189 000 Steuerpflichtige mit einem steuerbaren Gesamteinkommen von 8,8 Milliarden Franken. 2011 entrichteten diese Steuerpflichtigen insgesamt 574,1 Millionen Franken kantonale Einkommenssteuern.
Die Herkunft der Aufkommen ist sehr interessant: Ein Viertel der Steuerpflichtigen zahlte keine kantonalen Einkommenssteuern, da ihr Einkommen unter 20 000 Franken lag und damit steuerfrei war. Betroffen waren 46 496 Personen, vorwiegend Singles. Am anderen Ende der Skala lagen 16 000 Steuerzahlende mit mittelhohen bis hohen Einkommen von über 100 000 Franken jährlich. Das entspricht 8,5 Prozent der Steuerpflichtigen. Diese Gruppe entrichtete über die Hälfte aller Steuern: 295,6 von 574,1 Millionen Franken. Die grösste Gruppe lag dazwischen: 126 500 Personen oder zwei Drittel (66,9 Prozent). Dieser Mittelstand zahlte 278,6 Millionen Franken, was knapp der Hälfte der kantonalen Einkommenssteuereinnahmen entspricht (48,5 Prozent). Dieselben Proportionen gelten für die kommunalen Einkommenssteuern, die aufgrund der Kantonssteuer berechnet werden.
Das ist die Realität. Man kann dem Tessin vieles nachsagen, aber nicht, dass es keine deutliche Umverteilung der Einkommen praktiziert.
Marina Masoni / luglio 2014
Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 10 agosto 2014
Pubblicato il: 20/08/2014