Niemand darf sein Gesicht auf öffentlichen Strassen und Plätzen oder in für öffentliche Zwecke bestimmten Räumen (religiöse Einrichtungen ausgenommen) verhüllen oder verbergen. Niemand darf eine andere Person aufgrund ihres Geschlechts dazu zwingen, ihr Gesicht zu verhüllen.» Vor einem Jahr, am 22. September 2013, entschied das Tessiner Stimmvolk mit grossem Mehr, diese Bestimmung in der Kantonsverfassung zu verankern. Noch steht die Gewährleistung dieser Verfassungsänderung durch den Bund aus. Am 1. Juli hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nun aber ein Urteil zur Beschwerde einer Französin muslimischen Glaubens gegen ein ähnlich lautendes französisches Gesetz gefällt. Dieses Urteil ist auch für unser Land wichtig, weil es die Begründung des Tessiner Verfassungsartikels stützt und legitimiert. Es geht dabei um die Gewährleistung der Voraussetzungen für ein Leben in Gesellschaft, für ein Zusammenleben. Die freiwillige oder aufgezwungene Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum ist eine Abgrenzung gegen die anderen Menschen, welche diese Voraussetzungen verneint. Sie kann von der Gemeinschaft als Angriff auf das Recht des anderen empfunden werden, sich in einem gesellschaftlichen, auf das Zusammenleben ausgerichteten Raum zu entfalten. Das Burka- und Nikabverbot in der Öffentlichkeit ist verhältnismässig und verletzt weder die Religions- noch die Meinungsfreiheit noch das Recht auf Nichtdiskriminierung. So das Urteil der Strassburger Richter. Diese Begründungen sind nachvollziehbar. Die Verbreitung von islamischen Schleiern, die das Gesicht der Frauen ganz oder fast ganz verhüllen, betrifft unsere Identität. Sie läuft nicht nur den mühevoll errungenen Fortschritten auf dem Weg zur Gleichberechtigung entgegen, sondern auch den Grundwerten einer freien und offenen Gesellschaft wie etwa Freiheit, Toleranz und Menschenwürde. Die Gesichtsverhüllung steht für Intoleranz, Abschottung und für die Weigerung, sich zu integrieren. In unserem Gesellschaftsmodell wird sie als Provokation empfunden und als Angriff auf unsere Mentalität und Lebensart. Sie ist keine neutrale Wahl, der man gleichgültig gegenüber steht wie einem als unschön empfundenen Kleid. Eine einzige Begegnung mit einer Frau, die durch Burka oder Nikab verhüllt ist, genügt, um zu erkennen, dass diese Bekleidung eine Herausforderung unserer Freiheit durch die Nichtfreiheit, unserer Toleranz durch die Intoleranz und unserer Offenheit durch die Abschottung ist. Das Urteil aus Strassburg schafft da Klarheit und ist auch für unser Land ein Bezugspunkt.
Marina Masoni / Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 21 settembre 2014
Pubblicato il: 26/09/2014