Für Aussenstehende ist das Tessin einzigartig. Immer wieder sorgt es für Überraschungen, im Guten wie im Bösen, welche wohl wenige Eidgenossen unberührt lassen – das ist die Schweiz. In letzter Zeit wurde das Tessin allerdings nicht immer mit Wohlwollen bedacht. Der Kanton wird als Verlierer angesehen, der nörgelt und über Bern jammert. Dieses Klischee ist leider weit verbreitet und wird manchmal von den Tessinern selbst untermauert. Dabei hat das Tessin oft bewiesen, dass es projektieren, planen, umsetzen und mit Intelligenz und Kreativität für etwas arbeiten kann. Dass es mit Leidenschaft für ehrgeizige Ziele zu kämpfen weiss – in den verschiedensten Bereichen. Man hat gar von einem «Tessin der Wunder» gesprochen. Um ein Beispiel ausserhalb der Politik zu nennen: Eishockey. Vor zwei Wochen haben die Play-Offs begonnen. Zum ersten Mal seit der Saison 2005/2006 qualifizierten sich wieder beide Tessiner Clubs für die Endrunde. Und zwar brillant. Ihr Abenteuer ist zwar bereits vorbei, doch haben beide Teams Grosses geleistet.
Der HC Lugano und der HC Ambrì Piotta sind zwei wahrhaft erstaunliche Phänomene, sportlich wie auch ökonomisch, in einem Kanton mit 340 000 Einwohnern und einer Wirtschaftsleistung von etwas über 20 Milliarden Franken. Zwei historische Clubs. Zwei Vereine, die Tausende von Anhängern mitreissen. Fans, die sogar bereit sind, ihr Team auch in Krisenzeiten grosszügig finanziell zu unterstützen. Ein Tessin ohne diese beiden Eishockeyteams ist kaum vorstellbar, ohne die Rituale der Derbys, an denen sich die Gemüter erhitzen und die eine tief verwurzelte territoriale Rivalität fortführen.
Die letzten Play-Off-Derbys in der Saison 2005/2006 gehörten zu den leidenschaftlichsten: Ambrì hatte die ersten drei Spiele gewonnen und im vierten das entscheidende Tor nur wenige Sekunden vor Abpfiff ganz knapp verpasst. Doch Lugano reagierte selbstbewusst, gewann das vierte Spiel und die drei folgenden, eliminierte die Rivalen aus der Leventina und triumphierte schliesslich zuerst gegen die Flyers und im Final gegen Davos. Der Jubel war gross.
Können wir daraus etwas lernen? Ja. Es zeigt uns, dass die internen Unterschiede, die gegensätzlichen Leidenschaften und der Wettbewerb positive Folgen haben, wenn sie ein klar definiertes Ziel verfolgen und die Spielregeln respektiert werden, auch wenn der Kampf hart ist. Dann ist Erfolg kein Wunder mehr, sondern eine fassbare Realität, die schrittweise aufgebaut wird. Eine Realität, die unsere Landsleute ebenso verblüfft wie ein richtiges Wunder.
Marina Masoni
Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 23 marzo 2014
Pubblicato il: 28/03/2014