Im Tessin wird kritisiert, dass kein Bundesrat geplant hat, persönlich in der Südschweiz gegen die Einwanderungsinitiative der SVP anzutreten. Genauer: Lange wollte von der Landesregierung niemand kommen. Dann doch. Dann wieder nicht. Die Kritik am Bundesrat stammt nicht nur von Gegnern der SVP-Initiative, die ein Tessiner Ja befürchten. Sie kommt auch von Befürwortern der Initiative, für die das Desinteresse der Bundesräte ein weiterer Grund ist, sie anzunehmen. Die Diskussion spiegelt die Veränderungen der Tessiner Gesellschaft seit der Schaffung des europäischen Einheitsmarktes und seit sich die Schweiz die Frage stellt, wie sie sich am Integrationsprozess beteiligen will. Die Einwanderungspolitik und die Strategie gegenüber der EU sind, trotz offensichtlicher Überschneidungen, zwei verschiedene Dinge. Diese Trennung wurde jedoch schrittweise aufgehoben. So wurde die SVP-Initiative wurde lanciert, um die bilateralen Verträge zur Personenfreizügigkeit mit der EU zu bekämpfen.
Entgegen des Klischees der xenophoben Tessiner hat das Tessiner Stimmvolk jeweils alle Vorlagen, die klar ausländerfeindlich waren, an der Urne verworfen. Zu Zeiten Schwarzenbachs lehnte das Tessin alle Überfremdungsinitiativen ab, manchmal sogar deutlicher als der Landesdurchschnitt. Diese Einstellung bestätigte sich im September 2000 bei der Abstimmung über die Begrenzung der Ausländerquote auf 18 Prozent: 59,4 Prozent der Tessiner stimmten Nein.
Anders bei der Europafrage: Wenige Monate, bevor das Tessin seine Offenheit gegenüber den Einwanderern bewies, hatte es sich der EU im Mai 2000 verschlossen und die Bilateralen Abkommen mit 57 Prozent verworfen. Dieses Nein war Folge der politischen Veränderungen in den frühen Neunziger Jahren, als die Lega dei Ticinesi gegründet wurde. 1992 war das Tessiner Nein ausschlaggebend für das Volksmehr gegen den EWR; während die Stimmendifferenz gesamtschweizerisch nur gerade 24’000 betrug, lag sie im Tessin bei über 32’000. Von da an widersetzte sich das Tessin allen Vorlagen zu Europafragen. Ob Schengen/Dublin, Ausdehnung der Personenfreizügigkeit, Kohäsionsmilliarde, Schengen-Erweiterung auf Bulgarien und Rumänien: es gab immer über 60 Prozent Nein-Stimmen.
Nun wird formell zwar über die Einwanderung abgestimmt, in Wirklichkeit aber über die Bilateralen. Welches Tessin wird überwiegen? Dasjenige, das sich immer offen für die Einwanderung gezeigt hat, oder jenes, das der EU immer die Türen verschloss? Vielleicht sehen die Bundesräte ein Tessiner Ja als selbstverständlich an. Das könnte eine Fehleinschätzung sein.
Marina Masoni / 21.01.2014
Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 26 gennaio 2014
Pubblicato il: 31/01/2014